HANDLUNGSEMPFEHLUNGEN

 

Aus unseren Erfahrungen mit Mädchen und jungen Frauen, die von Zwangsheirat bedroht sind, haben wir für Multiplikatorinnen und Multiplikatoren, Fachkräfte und Unterstützungspersonen (z. B. Tante, Cousine, Schwägerin, Vertrauenslehrkräfte) Handlungsempfehlungen formuliert. Wir sehen diese Informationen als Hilfestellung, um Wege aufzuzeigen und Hinweise zu geben. So kann Mädchen und jungen Frauen bei einer drohenden Zwangsheirat geholfen werden und Alternativen können aufgezeigt werden.

 

JEDES MÄDCHEN HAT SEINE EIGENE GESCHICHTE UND PERSÖNLICHE SITUATION

Eine junge Frau sitzt in einem Bus, zu sehen ist nur ihr Gesicht

In Beratungs- und Unterstützungsprozessen bei drohender Zwangsheirat ist es wichtig, die individuelle Situation der betroffenen Mädchen und jungen Frauen wahrzunehmen und migrationssensibel zu reagieren. Das bedeutet, dass Wertvorstellungen und die jeweiligen Lebensumstände der Mädchen respektiert werden müssen. Darüber hinaus ist es nötig, geduldig und überlegt zu handeln. Beachten Sie, dass voreilige Handlungen oder schnelle Entscheidungen die Situation der Mädchen verschlechtern können.

Oft werden Heiratspläne angekündigt. Mädchen bekommen frühzeitig Anzeichen mit. Mögliche Hinweise auf eine Zwangsheirat sind:

  • Das Mädchen hat Vorahnungen, dass bald etwas Unangenehmes passieren wird
  • Es macht sich Sorgen, weil es älter geworden ist, sich seine Weiblichkeit entwickelt und es deshalb befürchten muss, bald verheiratet zu werden
  • Ihm wird viel Aufmerksamkeit gewidmet und es erhält besondere Geschenke, wie z. B. neue Kleider oder einen Ring
  • Es steht viel fremder Besuch an - oder auch regelmäßiger Besuch von nahen Verwandten
  • Es wird in seinem Alltag eingeschränkt, z.B. nicht mehr in die Schule geschickt
  • Es wird bedroht und erpresst
  • Es liegt eine unmittelbare Gefährdung vor, es gibt Hinweise auf körperliche Gewalt

DIE MÄDCHEN UND JUNGEN FRAUEN BRAUCHEN EINE GEDULDIGE PERSON, DIE IHNEN ZUHÖRT

Folgende Gesprächsregeln sind hilfreich und sollten berücksichtigt werden:

  • Zunächst sollten Sie dem Mädchen oder der jungen Frau Geduld, Anonymität und Hilfe zusichern
  • Transparenz und Absprachen sind für die Beratung wichtig; jeder Schritt sollte besprochen werden
  • Zwingen sie dem Mädchen oder der jungen Frau nicht eigene Wertvorstellungen auf. Machen Sie deutlich, dass nicht über ihren Kopf hinweg entschieden wird und alle anstehenden Schritte mit ihr abgesprochen werden
  • In einer Situation, in der Sie Unterstützung benötigen, sollten Sie sich selbst bei der Fachberatungsstelle über die Online-Beratung oder über die telefonische Beratung bei der Fachberatungsstelle gegen Zwangsheirat Rat und Hilfe holen.

 

Eine junge Frau mit dunklen Haaren, zu sehen ist nur ein Teil ihres Gesichts

Das Aufsuchen der Familien und Angehörigen ist besonders problematisch. Möchte ein Mädchen nicht in ihre Familie zurückgehen, sollte in einem ersten Schritt für eine sichere Unterbringung gesorgt werden. Der Dialog mit der Familie oder Vermittlungsgespräche sind zu diesem Zeitpunkt zweitrangig. Die Mädchen haben oft weder Hoffnung noch den Glauben daran, dass sich in ihren Familien etwas ändert. Sie trauen ihren Eltern und Verwandten nicht und haben Angst vor ihnen. Diese Besorgnisse des Mädchens sollten Sie sehr ernst nehmen. Viele Mädchen wollen nicht, dass die Polizei „sich einmischt“. Denn sobald die Polizei das Haus verlassen hat, ist ihnen kein Schutz mehr gegeben. Sie müssen den Ärger der Familie, den Druck und die Gewalt aushalten. Viele werden als Folge der Hausbesuche von offiziellen Stellen wie Polizei, Jugendamt oder Schule noch stärker kontrolliert, diffamiert und tyrannisiert.

Für die Mädchen haben die „gut gemeinten“ Vermittlungsversuche mit der Familie somit unerträgliche Konsequenzen; sie müssen danach häufig sehr viel stärker leiden. Deshalb holen Sie sich als Vertrauensperson im Vorfeld Hilfe und Unterstützung! Genaue Absprachen z. B. mit der Online-Beratung zum Schutz vor Zwangsheirat oder dem zuständigen Jugendamt, sind hilfreich und erforderlich!

HANDLUNGSEMPFEHLUNGEN FÜR UNTERSTÜTZUNGSPERSONEN

Für die einzelnen Berufsgruppen und Unterstützungspersonen empfehlen wir folgende Informationen und Regeln für den Umgang mit von Zwangsheirat mittelbar und unmittelbar betroffenen Mädchen und Jungen.

Lehrkräfte und Mitarbeiter der offenen Jugendarbeit sollten bei Verdacht oder Kenntnis einer Zwangsheirat in Ruhe mit dem Mädchen sprechen und Vertrauen aufbauen. Es gilt, überlegt zu handeln und mit dem Mädchen das konkrete Vorgehen abzusprechen. Schützen Sie die Anonymität und das Vertrauen des Mädchens!

Geben Sie keine persönlichen Daten des Mädchens preis, wenn sie Informationen zum weiteren Vorgehen mit anderen Personen besprechen (Jugendamt, Fachpersonen usw.). Informieren Sie nicht die Eltern, das kann – wie beschrieben - schlimme Folgen für das betroffene Mädchen haben. Der Schutz des Mädchens steht an erster Stelle!

Die Handlungsmöglichkeiten des Jugendamtes beinhalten die gesamten gesetzlichen Hilfs- und Eingriffsmöglichkeiten der Kinder- und Jugendhilfe. Die Beratungsgespräche mit dem Mädchen sollten grundsätzlich mit einer Vertrauensperson (z.B. Mitarbeiterin einer Beratungsstelle, Lehrerin oder Lehrer, Freundin oder Freund) der Betroffenen stattfinden. Wenn sich die Eltern als gesprächsbereit erweisen, kann ihnen aufgezeigt werden, dass das Wohl des Mädchens gefährdet ist. Wenn nötig, kann bei Elterngesprächen eine weitere Vermittlungsperson aus deren Kulturkreis hinzugezogen werden (Interkulturelles Büro, Personen aus der Gemeinde, Verwandte, die das Mädchen unterstützen).

Hierbei ist besondere Sensibilität nötig: Wünscht das Mädchen den Kontakt zu den Eltern nicht (z. B. bei Vermittlungs-/Klärungsgesprächen), muss die Entscheidung berücksichtigt werden.

 

Mädchengesicht im Profil, um den Kopf trägt das Mädchen ein Tuch

Während der Beratung sollte mit dem Mädchen über die Situation in seiner Familie gesprochen werden. Dem Mädchen sollten unterschiedliche Möglichkeiten aufgezeigt und ausreichend Zeit eingeräumt werden, die Beweggründe für das Verlassen der Familie zu reflektieren. Dazu gehört, dass mit ihm thematisiert wird, was passieren kann, wenn es sich zu einem Bruch der Familienbeziehungen entscheidet. Eine Kontaktaufnahme mit der Familie nach dem Weggang des Mädchens kann u. U. sein Leben gefährden.

In den meisten Fällen wissen die Betroffenen, dass sie möglicher Weise ein Leben in Anonymität führen werden - ohne jeglichen Kontakt zur Familie. Es muss klar werden, dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Jugendamtes die Mädchen unterstützen und für ihren Schutz sorgen wollen und können. Jede Unterstützungsmöglichkeit muss mit dem Mädchen zusammen besprochen und entschieden werden.

 

Das Gesicht einer jungen Frau, die mit ihren Händen ein Herz formt

Wenn Verhandlungsversuche mit der Familie nicht erfolgreich sind und das Mädchen weiter Druck und Gewalt erfährt, kann es über das zuständige Jugendamt nach § 42 SGB VIII in Obhut genommen, also vorläufig bei geeigneten Personen oder Einrichtungen untergebracht werden. Dieser Schritt muss mit dem Mädchen gut geklärt werden. Es geht hier speziell darum, inwiefern die betreffende Unterbringung sicher und geeignet ist. Oft werden volljährige Mädchen bei einer drohenden Zwangsheirat in Frauenhäusern untergebracht, um Schutz zu gewährleisten. Unter Umständen ist für eine Achtzehn- oder auch Zwanzigjährige die Unterbringung in einem Frauenhaus aber nicht geeignet und angemessen, da die Bedürfnisse und der Betreuungsbedarf solch junger Frauen dort nicht immer ausreichend berücksichtigt werden können.

Die individuell beste Lösung für das Mädchen oder die junge Frau muss gefunden und umgesetzt werden. Sie hat das Recht auf ein selbst bestimmtes Leben ohne Gewalt.

LINKS / HILFE IN NRW

Wenn Sie Hilfe vor Ort und weitere Informationen benötigen, dann finden Sie hier eine detaillierte Liste von Hilfe- und Beratungsangeboten: Links / Hilfe in NRW. Oder Sie wenden sich über die Online-Beratung an uns.